Besteht ein konkreter Verdacht auf häusliche Gewalt, gilt es nachzufragen. Das aktive Nachfragen bereitet die Basis für ein offenes Gespräch. Diejenigen, die (noch) nicht bereit sind, von sich aus über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen, können durch aktives Nachfragen zur Gesprächsbereitschaft ermutigt werden. Deshalb ist es im Umgang mit gewaltbetroffenen Frauen/Männern besonders wichtig, wiederholt Gesprächsbereitschaft vonseiten der Gesundheitskräfte zu signalisieren.
Führen Sie ein Gespräch wenn möglich in einer geschützten Umgebung unter vier Augen (z. B. im Röntgenraum) - insbesondere ohne Partner/-in und Angehörige - und sichern Sie der Patientin bzw. dem Patienten Vertraulichkeit zu. Entscheidend ist die Gesprächsführung, bei der mit konkreten und einfachen Worten gefragt werden sollte, ob die Patientin / der Patienten Gewalt erfahren hat. Dabei ist eine respektvolle und einfühlsame Haltung ohne Vorurteile und Schuldzuweisung entscheidend.
Hilfreiche Beispielsätze zur Unterstützung der Gesprächsführung
Wird die Gewalterfahrung von der Patientin / vom Patienten bejaht, ist es wichtig, dass Gesundheitskräfte diesen Aussagen glauben und dazu ermuntern, weiter darüber zu sprechen. Für das Gegenüber ist es hilfreich zu hören, dass Gewalt immer ein Unrecht ist und dass es NIEMAND verdient, geschlagen, getreten, missbraucht oder bedroht zu werden. Allerdings ist hier jegliche abfällige Bemerkung über den Gewalttäter / die Gewalttäterin ebenfalls zu vermeiden, da die Gefahr besteht, dass die Opfer blockieren, die Tat verharmlosen oder sogar rechtfertigen.
Wenn eine Patientin / ein Patient trotz begründetem Verdacht die Gewalterfahrung negiert, ist es dennoch hilfreich zu hören, dass eine begründete Sorge vorliegt und dass auch zu einem späteren Zeitpunkt Gesprächsbereitschaft besteht. Diese Signale sind nicht zu unterschätzen, ebenso wie weitere Informationen über spezielle Unterstützungsangebote.
Das bedeutet, dass die Patientin / der Patient entscheidet, wann für sie/ihn der richtige Zeitpunkt ist, um über die erlebte Gewalt zu sprechen. Vielfach bedarf es mehrerer Gesprächsangebote, bis es möglich ist, darüber zu sprechen. Seitens der Gesundheitskräfte bedarf es Geduld, insbesondere um Schweigen und Stagnation auszuhalten.
Im Rahmen der Gewaltanamnese sind die Patientinnen/Patienten auch über die berufliche Schweigepflicht, ggf. die Anzeigepflicht und das damit verbundene Prozedere (Dokumentation, Spurensicherung, Anzeige) sowie über Möglichkeiten und Rechte der Patientin / des Patienten aufzuklären (vgl. Informieren).
Grundregeln für die Gesprächsführung
- Schaffen Sie eine geschützte, vertrauensvolle Atmosphäre.
- Begegnen Sie der Patientin / dem Patienten mit Wertschätzung und Offenheit.
- Respektieren Sie das Tempo und das Selbstbestimmungsrecht der Patientin / des Patienten.
- Informieren Sie die Patientin / den Patienten über Ihre berufliche Schweigepflicht bzw. auch über die Anzeigepflicht.
- Verurteilen Sie die Gewalttat, nicht den gewalttätigen Täter / die gewalttätige Täterin, um keine weiteren Schuldgefühle beim Opfer zu wecken.
- Vermeiden Sie eine Re-Traumatisierung (kein Explorieren von Details, kein Nachfragen, wie und warum es zu Gewalt gekommen ist, große Vorsicht bei der Exploration der Biografie).
- Vermitteln Sie Informationen.
- Mobilisieren Sie Ressourcen.