Zwangsheirat und Kinderehe

Als „Zwangsehe“ wird die Verbindung von zwei Personen definiert, von denen mindestens eine nicht ihre volle und freie Zustimmung zu der Ehe gegeben hat. Als „Kinderehe“ gilt die Verbindung von zwei Personen, von denen mindestens eine jünger als achtzehn Jahre ist (Council of Europe 2005). 

Für die Vereinten Nationen stellt jede Zwangsheirat eine „moderne Form der Sklaverei“ dar, die eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen einschließlich der Verletzung von Kinderrechten und geschlechtsspezifischer Gewalt umfasst. Darüber hinaus wird das Recht auf körperliche Unversehrtheit, körperliche und geistige Gesundheit, sexuelle und reproduktive Gesundheit, Bildung, Freiheit und Autonomie untergraben. Die Vereinten Nationen fordern daher im Rahmen der Agenda für nachhaltige Entwicklung die Beseitigung von Zwangsheirat und Kinderehen bis zum Jahr 2030 (Agenda 2030 / SDGs). Die Istanbul­Konvention beschreibt die Zwangsheirat als eine Form der Gewalt gegen Frauen, die von den Unterzeichnerstaaten zu kriminalisieren ist (Council of Europe 2011). In Österreich ist Zwangsheirat seit 2016 in § 106a StGB als eigener Tatbestand festgelegt. 

Laut Schätzungen lebten im Jahr 2021 weltweit 22 Millionen Menschen in einer Zwangsehe. Der Anteil an Frauen und Mädchen betrug 14,9 Millionen Menschen (ILO, Walk Free, IOM 2022). Schätzungen der UNICEF ergaben, dass weltweit 650 Millionen Mädchen und Frauen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden (UNICEF 2018). Am weitesten verbreitet sind Kinderehen in West­ und Zentralafrika (39 %) und im südlichen Asien (29 %), gefolgt von Lateinamerika (25 %), dem Mittleren Osten und Nordafrika (17 %) sowie Osteuropa (11 %). Laut UNICEF wird alle drei Sekunden ein minderjähriges Mädchen verheiratet (UNICEF o. J.). In einer Studie zu Zwangsheirat in Österreich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden mittels Onlinebefragung in der Kinder­ und Jugendhilfe 54 vermutete Fälle im Bearbeitungszeitraum 2021 identifiziert. Da die Kinder­ und Jugendhilfe grundsätzlich nur für Jugendliche im Alter bis zu 18 Jahren zuständig ist und daher nur dieser Altersausschnitt erfasst wurde, wird von einer Schätzung von jährlich insgesamt rund 200 Fällen in Österreich ausgegangen (Haller et al. 2023).  

Zwangsheirat wird häufig mit dem Konzept der „Ehre“ in Verbindung gebracht bzw. damit begründet. Folglich kommt es zu Bezeichnungen wie „Gewalt im Namen der Ehre“, „ehrbasierte Gewalt“ oder „ehrbedingte Gewalt“. „Ehre“ greift jedoch als Erklärungsmodell zu kurz und birgt darüber hinaus die Gefahr des „Otherings“. Damit ist gemeint, dass eine Grenze zwischen einer „Gruppe“, der man sich zugehörig fühlt, und einer anderen „Gruppe“ gezogen wird. Beide „Gruppen“ werden in weiterer Folge als in sich geschlossen und homogen wahrgenommen; es kommt zu starken Verallgemeinerungen und Zuschreibungen. 

Der Begriff „Verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt“ (kurz: Verwandtschaftsgewalt) ist ein Ersatzbegriff für „Gewalt im Namen der Ehre“, „ehrbasierte Gewalt“ oder „ehrbedingte Gewalt“. Der Begriff wurde von der Fachstelle Zwangsheirat in der Schweiz entwickelt. In diesem Kontext ist Zwangsheirat als eine Form von Verwandtschaftsgewalt zu betrachten. 

Die Ursachen einer Zwangsverheiratung als Form von Verwandtschaftsgewalt liegen unter anderem im komplexen Zusammenspiel der Faktoren Familialismus, Patriarchat und Traditionalismus. Zudem spielt die erweiterte Täterschaft im Kontext von Verwandtschaftsgewalt eine wichtige Rolle. Im Unterschied zu anderen Gewaltformen (wie z. B. zu häuslicher Gewalt) kann es eine Vielzahl an potenziellen Täterinnen und Tätern geben (weibliche und männliche Familien­ bzw. Community­ Mitglieder), die Druck und Gewalt auf die Betroffenen ausüben. Verwandtschaftsbasierte Gewalt kann schließlich auch internationale Dimensionen annehmen, wenn Familien­ bzw. Community­ Mitglieder aus dem Ausland Druck bzw. Gewalt ausüben. 

Viele Mädchen, die in Österreich aufgewachsen sind, nehmen eine sich anbahnende Eheschließung zunächst nicht ernst, da sie über ihre Frauen­ und Freiheitsrechte informiert sind. Oftmals wenden sie sich erst dann an eine Beratungsstelle, ein Frauenhaus, eine Lehrerin oder eine Ärztin, wenn der familiäre Druck steigt und Gewalt eskaliert (Potkanski-Palka 2018). Bekannt sind Fälle, in denen Mädchen während des Urlaubs im Herkunftsland gegen ihren Willen mit einem jungen Mann verheiratet werden, wobei es durchaus vorkommt, dass sie nicht nach Österreich zurückkehren können, da ihnen die Reisepässe weggenommen werden. Zudem sind auch Fälle bekannt, bei denen Frauen bzw. Mädchen von einem in Österreich lebenden Mann aus dem Herkunftsland zur Verheiratung nach Österreich „angeworben“ werden (umgangssprachlich spricht man von „Importbräuten“). 

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