Mehrere Studien bestätigen die hohe Verletzbarkeit und Gefährdung insbesondere von Mädchen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, die häufig sexueller Gewalt in der Herkunftsfamilie ausgesetzt sind. Spätere Paarbeziehungen sind oft schwer zu realisieren. Die große Bedürftigkeit der Frauen nach Zuwendung und Nähe, welche teilweise aus der Kindheit resultiert, macht sie anfällig für Gewalt und Dominanz des Partners. Trennungen vom Gewalttäter werden oft abgelehnt, weil die Beeinträchtigung bzw. Behinderung eine Hürde für eine neue Beziehung darstellen kann (Müller/Schöttle 2004).
Wenn Gewaltopfer mit Beeinträchtigung oder Behinderung in die Ambulanz kommen, besteht immer die Gefahr, dass die Symptome irrtümlich der bestehenden Behinderung zugeordnet oder als Nebenwirkung von Medikamenten eingestuft werden. Speziell bei Mädchen und Frauen mit Lernschwierigkeiten (Intelligenzminderung), autistischen Verhaltensweisen oder psychischen Erkrankungen besteht die Gefahr, dass sie nicht die notwendige Unterstützung zur Verarbeitung des Gewalterlebnisses erhalten. Wird das Trauma nicht bearbeitet, besteht die Gefahr von weitergehender Misshandlung (BMASGK 2012).
Grundsätzlich ist bei Verdacht auf eine vorliegende Gewalterfahrung bei Patientinnen/Patienten mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung standardmäßig vorzugehen. Zusätzlich gilt es noch zu beachten, dass diese Patientengruppe immer an die jeweilige Beeinträchtigung angepasst behutsam anzusprechen ist. Vorschnelles unüberlegtes Handeln kann auch schaden (BMASGK 2012). Den Patientinnen und Patienten sind Informationen über die spezialisierten Einrichtungen in die Hand zu geben. Nach ausdrücklicher Zustimmung ist auch eine telefonische Kontaktherstellung durch die Gesundheitskraft möglich.
Checkliste
Vorschläge für die Versorgung von gewaltbetroffenen Patientinnen/Patienten mit Behinderung im Krankenhaus:
- Gewalt erkennen: Gewalt kann Symptome einer Beeinträchtigung oder Behinderung verstärken. Wird die Gewalt von Betreuungspersonen, Partnern, Familienmitgliedern ausgeübt, von denen die Patientin stark abhängig ist, ist es besonders wichtig, darüber zu sprechen und Unterstützung anzubieten. Für Untersuchung und Erstversorgung ist genügend Zeit einzuplanen, um Ängste zu überwinden und Vertrauen aufzubauen. Wichtig ist es auch, Betreuungspersonen, denen die Patientin vertraut, einzubinden.
- Sensible medizinische Behandlung: Patientinnen können, bedingt durch die Behinderung oder aufgrund vergangener schmerzhafter medizinischer Behandlungen, bei der Behandlung sehr ängstlich sein. Deshalb ist es auch hier wichtig, sich genügend Zeit für den Vertrauensaufbau zu nehmen.
- Dolmetscher/-innen: Bei der Behandlung gehörloser Menschen ist es wichtig, dass Gebärdensprachdolmetscher/-innen hinzugezogen werden.
- Umfassende Weitervermittlung: Patientinnen mit Behinderungen sollen an Opferschutzeinrichtungen und spezialisierte Beratungseinrichtungen vermittelt werden, sofern sie noch nicht von diesen Einrichtungen unterstützt werden.
- Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen von und für Menschen mit Behinderungen: Für eine bestmögliche Versorgung von Patientinnen mit Beeinträchtigungen bedarf es einer Zusammenarbeit mit den spezialisierten Einrichtungen und Organisationen.
Quelle: (Gruber/Logar 2015)
Praxisbeispiel aus Deutschland: Broschüre in leichter Sprache zu häuslicher Gewalt
Unter https://www.liebe-mit-respekt.de/ finden Sie die Texte auch auf einer Website und mit ReadSpeaker in verschiedenen Sprachen für beeinträchtigte Personen
Studie "Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen" (BMASGK, 2019)